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Schätzungsbescheid vom Finanzamt: Was Onlinehändler jetzt tun müssen

Geschrieben von Nadine Oberherr | Nov 28, 2025 1:07:05 PM
Steuerstrafrecht & E-Commerce

Schätzungsbescheid vom Finanzamt: Was Onlinehändler jetzt tun müssen

Für viele Selbstständige und Unternehmer im E-Commerce ist es ein Schockmoment: Der gelbe Brief vom Finanzamt liegt im Briefkasten – ein Schätzungsbescheid. Besonders für Amazon-FBA-Seller oder eBay-Händler, deren Umsätze oft automatisiert gemeldet werden, ist dies ein kritisches Signal. Wir erklären, warum das Finanzamt schätzt, welche strafrechtlichen Risiken lauern und wie Sie das "Vollständigkeitsgebot" beachten müssen, um Schlimmeres zu verhindern.

Was bedeutet ein Schätzungsbescheid konkret?

Ein Schätzungsbescheid ergeht immer dann, wenn das Finanzamt keine Besteuerungsgrundlagen von Ihnen erhalten hat – sprich: Die Steuererklärung wurde nicht oder nicht fristgerecht eingereicht. Mangels konkreter Zahlen "schätzt" die Behörde Ihre Umsätze und Gewinne.

Für Onlinehändler ist dies besonders gefährlich. Da Finanzämter Zugriff auf Kontrollmitteilungen von Marktplätzen haben, fallen Schätzungen oft deutlich zu hoch aus, um den Druck auf den Steuerpflichtigen zu erhöhen. Wichtig zu verstehen ist: Ein Schätzungsbescheid ist kein finaler Abschluss, sondern eine Aufforderung zum Handeln, die oft strafrechtliche Relevanz besitzt.

Der Wortlaut des Finanzamts: Ein Warnschuss

Um die Tragweite zu verstehen, lohnt ein Blick auf den Standardtext, den Finanzämter in den Erläuterungen des Bescheids verwenden. Dieser Text ist mehr als nur Bürokratie – er ist eine rechtliche Belehrung.

Erläuterungen

"Ich habe die Besteuerungsgrundlagen geschätzt, weil Sie trotz Aufforderung bisher keine Steuererklärung abgegeben haben. Obwohl ich die Besteuerungsgrundlagen geschätzt habe, kann Ihrerseits eine Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit vorliegen.

Reichen Sie Ihre Steuererklärung unverzüglich ein, denn die Schätzung befreit Sie nicht von Ihrer Erklärungspflicht.

Überprüfen Sie bitte bei der Erstellung Ihrer Steuererklärung, ob sich auch für andere Zeiträume eine Steuerpflicht ergibt oder ob Sie bereits abgegebene Steuererklärungen berichtigen müssen.

Sollte dies der Fall oder nach Ihrer Einschätzung möglich sein, erstellen Sie bitte auch für diese Zeiträume (ggf. berichtigte) Steuererklärungen.

Geben Sie bitte unbedingt alle Steuererklärungen für die entsprechenden Zeiträume gleichzeitig ab, um Nachteile zu vermeiden.

Eine strafbefreiende Selbstanzeige können Sie nur unter Einhaltung der gesetzlichen Voraussetzungen abgeben. Bei Zweifelsfragen sollten Sie eine Rechts— oder Steuerberatung hinzuziehen.

Rechtsgrundlagen:
§ 162 Abgabenordnung (Schätzung)
§ 371 Abgabenordnung (Selbstanzeige)"

Keine Erklärung abgegeben? Das Risiko der Steuerhinterziehung

Viele Unternehmer wiegen sich in falscher Sicherheit: "Ich habe ja nichts Falsches angegeben, ich habe es nur vergessen." Das ist ein Trugschluss. Wer trotz gesetzlicher Verpflichtung keine Steuererklärung abgibt, begeht in der Regel eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen.

Dafür muss keine kriminelle Energie im klassischen Sinne vorliegen. Es genügt bereits, wenn Sie wussten, dass eine Erklärung fällig war, und diese nicht eingereicht haben (bedingter Vorsatz). Gerade im operativen Chaos des E-Commerce – zwischen Warenbeschaffung, Kundensupport und Logistik – werden Fristen oft verdrängt.

Für das Finanzamt ist "Stress" jedoch kein Entschuldigungsgrund. Besonders bei spezialisierten E-Commerce-Geschäftsmodellen wie Amazon FBA oder Dropshipping, wo komplexe Umsatzsteuer-Thematiken (OSS, EU-Lieferungen) hinzukommen, wird das Nicht-Abgeben schnell als Versuch gewertet, steuerliche Pflichten zu umgehen.

Die Falle beim Vollständigkeitsgebot

Der Hinweis im Schätzungsbescheid auf die "strafbefreiende Selbstanzeige" ist Ihre Brücke zurück zur Legalität – aber diese Brücke ist schmal. Eine Selbstanzeige funktioniert nur, wenn sie dem Vollständigkeitsgebot entspricht.

Das bedeutet: Sie dürfen nicht nur das eine Jahr korrigieren, für das der Schätzungsbescheid ergangen ist. Sie müssen proaktiv prüfen ("Berichtigungsverbund"), ob auch andere Jahre fehlerhaft oder unvollständig waren.

Typische Fehlerquellen im Onlinehandel, die hierbei oft übersehen werden:

  • Umsatzsteuer-Voranmeldungen stimmen nicht mit den Jahresdaten aus dem Amazon VAT Report überein.
  • Verkäufe auf neuen Plattformen (z.B. Kaufland, Etsy) wurden in der Buchhaltung noch gar nicht erfasst.
  • Zahlungsabgleiche (PayPal, Stripe) wurden nicht finalisiert.

Eine Selbstanzeige, die nur das geschätzte Jahr "flickt", aber bekannte Fehler in anderen Jahren ignoriert, ist unwirksam. Sie kann sogar als Indiz für vorsätzliches Verschleiern gewertet werden.

Praxisbeispiele: Wenn Schnittstellenfehler teuer werden

Um die Gefahr zu verdeutlichen, betrachten wir zwei Szenarien, die uns in der Beratungspraxis häufig begegnen.

Beispiel 1: Selektive Offenlegung

Ein Händler hat seit 2022 keine Erklärungen abgegeben. Das Finanzamt schätzt das Jahr 2022. Der Händler reicht panisch nur die Erklärung für 2022 nach, lässt aber 2023 (wo die Frist ebenfalls verstrichen ist) unberührt.

Die Folge: Das Finanzamt könnte argumentieren, dass hier bewusst unvollständig offengelegt wurde. Die "Rückkehr zur Steuerehrlichkeit" ist gescheitert. Die Selbstanzeige wirkt nicht strafbefreiend, und es drohen Geldstrafen sowie Hinterziehungszinsen.

Beispiel 2: Der klassische Schnittstellenfehler

Ein Multichannel-Händler nutzt Shopify und Amazon. Ein Fehler in der FiBu-Schnittstelle führte dazu, dass im Jahr 2022 Amazon-Umsätze in Höhe von 50.000 € nicht importiert wurden. Die Erklärung für 2022 ist bereits abgegeben und somit falsch.

Nun erhält der Händler einen Schätzungsbescheid für das Jahr 2023, da er hier noch gar nicht abgegeben hat. Er reicht schnell die Erklärung für 2023 ein, um "Ruhe zu haben", korrigiert aber den bekannten Fehler aus 2022 nicht sofort mit.

Das strafrechtliche Problem:

  • Durch die Abgabe von 2023 wird zwar auf die Schätzung reagiert.
  • Aber: Das Wissen um die falschen Daten in 2022 wird verschwiegen.
  • Das Vollständigkeitsgebot ist verletzt.

Das Finanzamt verfügt heute über extrem detaillierte Datenströme (OSS-Meldungen, Amazon VAT Transaction Reports, Meldungen von Zahlungsdienstleistern). Solche Lücken fallen bei einer Betriebsprüfung fast immer auf.

Mögliche Konsequenzen und Handlungsempfehlung

Ob ein solcher Vorgang am Ende "nur" teuer wird oder strafrechtliche Konsequenzen hat, hängt vom Einzelfall ab. Entscheidende Faktoren sind die Höhe der hinterzogenen Steuer, die Anzahl der betroffenen Jahre und vor allem Ihr Verhalten nach Erhalt des Schätzungsbescheids (Kooperation vs. Salamitaktik).

Fazit: Ein Schätzungsbescheid ist ein unmissverständliches Signal zum sofortigen, aber besonnenen Handeln.

  • Ignorieren Sie den Bescheid keinesfalls.
  • Vermeiden Sie hektische Teil-Abgaben.
  • Prüfen Sie zwingend alle offenen und vergangenen Zeiträume auf Korrektheit (Vollständigkeitsgebot).
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